Foto: Lorsch
Seit 2017 setzt der Hessische Literaturrat e.V. mit Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur (HMWK) das Projekt „Land in Sicht: Autor*innenresidenzen im ländlichen Raum“ um. Eine der drei Residenzen für 2025 war die Karolingerstadt Lorsch. Hier residierte die Autorin und Künstlerin Jelena Kern für zwei Monate von August bis September, lokal unterstützt durch das Kultur- und Tourismusbüro Lorsch. Vor Ort recherchierte die Stipendiatin intensiv zur Geschichte des Tabakanbaus und der Zigarrenproduktion, beides hat in Lorsch eine über 300-jährige Geschichte.
Jelena Kerns Fokus lag dabei vor allem auf der Historie und den Geschichten der Frauen, die im Zigarrenhandwerk tätig waren, – nicht zuletzt deshalb, weil auch ihre eigene Großmutter und Urgroßmutter sogenannte Rollerinnen waren. Die Autorin führte Zeitzeuginnengespräche, recherchierte im Stadtarchiv und erlebte die Tabakernte im heutigen Lorsch mit: „Ich bin den Frauen, die sich die Zeit genommen haben, mit mir über ihre Arbeit zu sprechen, sehr dankbar. Sie konnten mir aus erster Hand von den Fabriken und der Heim- und Feldarbeit erzählen. Sie teilten Anekdoten, die nirgendwo aufgeschrieben sind, die ich in keinem Archiv dokumentiert fand. Auch haben mir die über 90-Jährigen von den körperlich oft sehr anstrengenden Tätigkeiten berichtet – der Monotonie, den geringen Gehältern, der Belastung durch die zusätzliche Sorgearbeit.
Aber sie erzählten auch von einem starken Zusammenhalt und von vielen schönen Momenten. Gerade auch die Tabaknäherinnen scheinen es den Menschen angetan zu haben – Frauen, die in den Höfen auf Strohsäcken saßen und nach der Ernte die Tabakblätter zum Trocknen auffädelten. Gerade diese Praxis des Austauschs wird durch das Tabakprojekt wiederbelebt. Diese Kontraste bieten für die literarische Arbeit eine großartige Grundlage, auch die Auseinandersetzung mit den unerzählten Geschichten, die zahlreichen Biografien von den Arbeiterinnen, die gewerkschaftlichen Entwicklungen in der Tabakbranche, all das hat mich nachhaltig beschäftigt. Einen Teil ihrer Recherche stellt sie bei ihrer Abschlusslesung in der Zehntscheune am 26. September vor zahlreichen Gästen vor.
So entstanden vor Ort Kohlezeichnungen und Skizzen, die während der Veranstaltung in der Zehntscheune ausgestellt wurden. Darüber hinaus präsentierte die Autorin den vor Ort entstandenen Prosatext „Entgeltbuch“, der in Auszügen als Broschüre vom Publikum im Anschluss an die Lesung mitgenommen werden konnte. Hierin verwebte sie kunstvoll die Realität weiblicher Arbeit in der Zigarrenherstellung mit Fiktion. Im Gespräch mit Moderatorin Judit Hoffkamp sprach sie über die zentralen Erlebnisse während ihrer Zeit in Lorsch. Gerahmt wurde der Arbeit durch Musik von Håvard Møen Otnes. Wer die Abschlussveranstaltung verpasst hat, hat ab sofort die Möglichkeit, sich noch ein kostenloses Exemplar von Jelena Kerns „Entgeltbuch“ im Lorscher Museumszentrum zu sichern, solange der Vorrat reicht.
Ebenfalls in der Zehntscheune ausgestellt wurden Texte aus einem mehrstündigen Schreibworkshop, den die „Land in Sicht“-Stipendiatin während ihrer Zeit in Lorsch angeboten hatte und regen Zuspruch fand. „Es war toll, die Gelegenheit zu haben, mit Menschen vor Ort auch ins Schreiben zu kommen. Ich empfinde es als sehr bereichernd, gemeinsam mit anderen zu schreiben – Räume zu schaffen, in denen Erinnerungen geteilt und neue Perspektiven ermöglicht werden. Es war mir wichtig, den Zugang zum Schreiben möglichst niedrigschwellig zu gestalten. Deshalb habe ich mich für die kleine Form, das Fragment, entschieden.
Ich glaube, dass literarische Arbeit dort beginnt, wo wir einen Ausschnitt des Erlebten in einen Rhythmus bringen – ein spielerischer Zugang zur Sprache kann dabei sehr hilfreich sein.“ Marcel Ehret vom Kultur- und Tourismusbüro Lorsch blickt zufrieden auf die Stipendienzeit zurück: Wir sind wirklich stolz auf die großartige Arbeit, die Jelena in nur zwei Monaten in Lorsch geleistet hat! Viele der Textfragmente, die entstanden sind, lesen sich bereits jetzt wie Auszüge aus ganzen Geschichten, von denen wir natürlich hoffen, dass sich daraus noch mehr entwickeln kann. Das Projekt mit dem Hessischen Literaturrat war eine wunderbare Bereicherung für die Lorscher Kulturarbeit, die wir gerne auch künftig in neuen Projekten fortsetzen würden, wenn sich die Möglichkeit ergibt.